Ich kam mir schon ein wenig klein vor, als ich mich am Donnerstag für ein Interview mit Alexander Siegmund traf. Nicht nur, weil uns rein physisch gesehen ein knapper Höhenmeter trennte, sondern auch, weil ich großen Respekt davor habe, was er im mittelfränkischen Roth auf der Langdistanz abgeliefert hat. Für die 3,8km beim Schwimmen, 180km auf dem Rad und den Marathon hinterher brauchte er 8:40:57 Stunden!!
Allein die Vorstellung, sich einer solchen Herausforderung BEWUSST zu stellen, sich ihr freiwillig auszusetzen, verdient einfach großen Respekt. Aber umso bemerkenswerter finde ich, was ein jeder bis dato schon geleistet hat. Denn was sind mehr oder weniger 9 Stunden (die magische Hürde, wie sie im Amateur-Bereich gilt) im Vergleich zu einem Jahr, in dem man sich akribisch, diszipliniert und aufopfernd darauf vorbereitet hat?
Im Grunde genommen doch kaum der Rede wert, aber trotzdem dreht sich alles nur um den einen Tag! Das Rennen selbst ist rein im Verhältnis nur ein Wimpernschlag und trotzdem sind alle Augen, ist die persönliche Aufmerksamkeit allein darauf gerichtet. Ein Tag, der ein ganzes Jahr in den Schatten stellt. Wie ein Tropfen Tinte im Eimer Wasser.
Und dieses Bild visualisiert eigentlich ganz gut, was der eine Tag auch mental für Auswirkungen haben kann. Denn vor so einem Wettkampf sieht man gerne mal schwarz und beginnt zu zweifeln. Nervosität und Anspannung regieren die Gefühlswelt.
Der Tag hat nur 24 Stunden
Als ich Alexander so vor mir sah, hätte ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen können, dass es ihm in letzter Zeit genau so erging. Zumindest konnte er sich bei seiner Arbeit als Moderator in den Tagen vor dem Rennen recht gut von seiner Unsicherheit ablenken.
Das Jahr lief einfach nicht so, wie er es sich gewünscht hätte. Zumindest sportlich gesehen, denn rein beruflich gab und gibt es keinen Grund, beunruhigt zu sein – ganz im Gegenteil.
Aber der Erfolg dabei kommt auch nicht von irgendwo her und während sich das eine Investment endlich auszahlt, hingt nun mal das andere (Zeit fürs Training) hinterher. Wie soll das auch gehen, wenn der Tag nur 24 Stunden hat und davon das eine (die Existenzgründung) und das andere (die Vorbereitung auf den Ironman) beides mehr oder wenig einem Vollzeitjob entspricht – und die Einsätze als Moderator nicht zu vergessen, für die teilweise auch längere Fahrtwege in Kauf nimmt.
Wenn zwei Leidenschaften kollidieren
Zwar spulte Alexander weiterhin seine 20 Stunden Training pro Woche ab, allerdings war der Kopf ganz woanders bzw. während des Trainings schon im nächsten Termin. Selten war er also im Hier und Jetzt bzw. eher an zwei Orten gleichzeitig. Denn er versuchte trotzdem so gut es ging, all seinen Herzensangelegenheiten irgendwie gerecht zu werden.
Mit einem guten Zeitmanagement und Disziplin kommt man zwar weit, aber nicht weit genug bzw. irgendwo muss man Abstriche machen und Kompromisse eingehen. Und so beherrscht einem das Gefühl, dass man nie genug macht und für die gewünschte Perfektion eigentlich immer etwas fehlt – und das, obwohl rein objektiv betrachtet schon Großartiges geleistet und bereits vieles erreicht wurde.
Aber all das, was wir tun und leisten, übersehen wir gerne mal bzw. wir geben den Dingen im Eifer des alltäglichen Gefechts nicht den Raum, um uns ihrer (als auch uns selbst) bewusst zu werden. Und so sind wir eigentlich nie zufrieden, sondern rastlos.
Wann kommst du bei dir an?
… anstatt nur an das Ziel nach gerundet 226km zu denken?
Aber genau dieser Moment des Realisierens kam dann (noch rechtzeitig) – wenige Stunden vor dem Rennen am Sonntag. Alexander saß in seinen Recoflow Boots, während er von der Terrasse Stimmen seiner Familie und Freunde vernahm. Alle waren nur seinetwegen angereist, um ihn bei seinem Rennen zu unterstützen.
Auf einmal wird dir bewusst, dass es einfach wichtigeres gibt, als ein streng getakteter Terminplan oder die noch irgendwie rein gequetschte dritte Trainingseinheit. Wie hirnrissig erscheint dir der Gedanke, auf Teufel komm raus den letzten Intervall noch irgendwie hinter sich zu bringen – insbesondere, wenn die Beine nach einem gefühlt 16 Stunden Tag einfach zu müde sind.
Du entschleunigst die Zeit und besinnst dich auf das Wesentliche. Nimmst wahr, was du normalerweise übersiehst. Begreifst, was dir alles entgeht, während du von einem zum nächsten jagst. Du realisierst, was du doch eigentlich alles stemmst. Wie du dich zerreißt, um auch jede sich auftuende Chance zu nutzen. Aber leider auch, wie viele bereichernde Momente dabei achtlos an dir vorbeiziehen. Momente, die dir wieder Kraft und Motivation geben könnten.
Gefangen im Hamsterrad
Oft funktionieren wir nur. Wir reagieren und parieren, anstatt auch mal zu reflektieren. Anstatt einfach mal nur in sich hineinzuhören und sich auf das zu reduzieren, was erst all das Leisten möglich macht: das unermüdlich schlagende Herz – angetrieben von Leidenschaft und gestärkt durch die Liebe unserer Mitmenschen. Aber wie viel Zeit bleibt dafür? Und wie viel Zeit hast du für dich?
Der Rest mag zwar laufen und sich auch zeitweise positiv entwickeln, aber wo stehen wir am Ende des Tages bzw. mit wem teilen wir unser Glück, wenn wir uns selbst und andere immer nur hinten anstellen?
Während Alexander also so da sitzt, wird ihm vieles klar. Auch das Rennen wurde ihm erst beim Bike-Check-In so richtig bewusst bzw. auch die endgültige Entscheidung, an den Start zu gehen, fiel erst am Tag vorher.
Er hatte sich trotz der widrigen Umstände letztlich für das Rennen entschieden, weil er sich vom Kopf her befreien konnte. Von jenem Leistungsdruck, der ihn eigentlich seit Jahren während seines stets leistungsorientierten Trainings (erst im Tennis und Fußball dann im Triathlon) begleitet hat. Und er begriff, dass er sich längst glücklich schätzen kann.
Pack ein, was du wirklich brauchst und wirf den Rucksack ab
Ein warmes Gefühl machte sich breit und schenkte ihm Vertrauen und Sicherheit. Die Selbstzweifel wurden nichtig gesprochen, weil es einfach wichtigeres im Leben gibt. Vorfreude und Dankbarkeit verdrängten die Angst.
Alexander: „Es war so, als hätte sich ein Schalter umgelegt…“
Am Tag des Rennens nahmen sowohl Respekt als auch Gelassenheit seinen Körper ein. Aus dem strengen Tunnelblick wurde ein bewusstes Wahrnehmen. Aus einem flüchtigen Blick wurde ein glückliches Interagieren mit den vielen Leuten am Streckenrand.
Zwischen Kilometer 80 und 100 auf dem Rad und zwischen Kilometer 12 und 17 auf der Laufstrecke wurde es zwar rein vom Kopf her etwas schwerfällig, aber im Herzen schlugen die Ziffern 07.07. (der Geburtstag seiner verstorbenen Oma und auch der Grund, warum sich Alexander erneut für die Challenge Roth entschieden hatte, nachdem er hier im Vorjahr in einer Zeit von 8:56h sein Debüt gab).
Und im Kopf schipperte bzw. schwebte ein Luftkissenboot übers Wasser und gab sich dem Wellengang leichtfüßig hin. Dieses Bild hatte er sich vorab mental abgespeichert und sollte er sich laut Tipps von anderen immer vergegenwärtigen, wenn es mal hart werden sollte. Und es funktionierte… es half ihm und er arbeitet sich immer weiter vor.
Es passt einfach alles
…das eigene Körpergefühl, Familie und Freunde überall am Streckenrand, sein bester Freund, der eher als introvertiert gilt und plötzlich lauthals aus der Haut fuhr und ihn anfeuerte, sein Lied „Queens of New Orleans“ welches ein Bekannter pünktlich bei Kilometer 31 durch die Lautsprecher tönen ließ sowie bekannte Gesichter auf der Strecke, denen man tatsächlich noch in der Fülle an Teilnehmer über den Weg lief. Und im Zielbereich schließlich die gegenseitige Wertschätzung, völlig erschöpfte aber überglückliche Blickwechsel und Umarmungen.
Wenn du das Glück gänzlich spürst und gleichzeitig nicht fassen kannst. Dann hast du etwas geleistet, womit du niemals gerechnet oder aber aus Ehrfurcht verdrängt hast. Und du hast gelernt – und das ist viel wichtiger – (dich) wahrzunehmen und das Leben nicht einfach nur an dir vorbeiziehen zu lassen. Den eigenen Blickwinkel zu reduzieren und sich auch nur mal auf sich zu konzentrieren. Sich nicht nach allen Seiten hin auszustrecken, sondern sich manchmal einfach auch selbst auf die Schulter zu klopfen und in den Arm zu nehmen. Du kannst stolz auf dich sein.
Fotocredit des Beitragsbildes: Marcel Hilger